Die Geschichten um den Minotaurus und das Labyrinth beschäftigen mich schon viele Jahre. Ich habe 2013 damit begonnen, diese künstlerisch zu bearbeiten - Zeichnungen, Aquarelle, Ölbilder und vor allem Linol- und Holzschnitte sind entstanden. Auch habe ich die Begebenheiten um die handelnden Personen mit meinen Worten aus deren Sicht geschrieben. Dabei sind die Ereignisse teilweise anders geschehen, als diese der Überlieferung nach eigentlich sein sollten.



Minotaurus

Flucht kann manchmal lebensrettend sein. Das wusste ich nicht, fast wäre die Erkenntnis für mich auch zu spät gekommen. Aber ich habe überlebt.
Jahrelang lebte ich in meiner Welt, nach Jahren erfuhr ich von einem Menschen, dass es Labyrinth hieß, in dem ich lebte. Ich hatte Wege und Plätze, diese bestanden aus Wiesen und Hecken. Ich konnte nicht über diese hinweg schauen - so sehr ich mich auch anstrengte. Ich konnte laufen, liegen und spielen wo ich wollte - wo Schatten war, oder wo die Sonne mich wärmen sollte. Andere kleine Tiere waren meine Spielgefährten, ganz am Anfang hatten sie Angst vor mir, das legte sich später, denn ich wollte sie ja nicht fressen. Ich aß Blätter, Pflanzen und Früchte - die Menschen, die ab und zu in meinem Labyrinth waren, habe ich gejagt und gegessen. Die Menschen hatten alle Angst vor mir. Zunächst wollte ich mit ihnen spielen, mit ihnen durch die Gänge laufen. Aber sie hatten Angst und griffen mich an. Ich habe mich gewehrt. Sie schlugen auf mich ein, mit allem, was sie fanden. Da wurde ich immer wütend und habe zugeschlagen und gebissen. Das warme Fleisch schmeckte gut, war etwas anderes als die Früchte und Pflanzen. Ich hatte mich in meinem Leben eingerichtet - manche Abwechslung nahm ich gern hin. Die Zeit nach den Menschen, die unfreiwillig mit mir kämpften, die Zeit danach war zunächst immer durch eine große Leere geprägt. Ich wartete tagelang auf etwas, was ich nicht fassen konnte. Meine Denken und Fühlen kam aus dem Nichts heraus. All meine Erfahrungen schienen aus den Begegnungen mit den Menschen zu kommen. Ich lebte in meiner Welt, auch in meiner Gedankenwelt. Nach Tagen kam der übliche Lauf der Zeit wieder zurück.
Dann kam einer, der hatte keine Angst. Der wollte etwas von mir, das spürte ich sofort. Er schlug anders, hatte andere Waffen, war schlauer als die anderen. Am Anfang wehrte ich mich noch, aber dann fühlte ich mich plötzlich ganz wohl, auf dem Boden zu liegen. Der Mann schlug weiter auf mich ein, auch stach er mit spitzen Gegenständen in mich. Es tat weh, aber ich ertrug alles, blieb liegen, irgendwann ist er dann gegangen. Nach einer langen Zeit bin ich aufgestanden, es tat vieles weh, aber langsam ging es wieder. 
Die Welt, als ich wieder sehen konnte. Ich merkte, dass etwas anders war. Ich lief nicht mehr so frei durch die Gänge, sondern hielt mich an den Hecken etwas versteckt. Es kamen dann Menschen, die etwas suchten - ich versteckte mich. Bald waren diese dann wieder weg.
Mein Liegenbleiben war wie eine Flucht. Flucht kann manchmal lebensrettend sein.
Auch wenn ich im Labyrinth blieb, so bewegte ich mich gedanklich doch aus dem Labyrinth heraus. Mein Leben im Kopf begann. Früher war mein eigenes Selbst der Kerker, aus dem ich mich befreien konnte. Und ich begriff, dass mein Ausharren am Boden, das meine Feigheit meine Rettung war. Flucht kann manchmal auch Rettung sein. Und mit dieser Rettung begann mein neues Leben - alles was ich von nun an erlebte, erlebte ich aus einer anderen Perspektive.



Theseus

Ich verweile nicht gern lange bei einer Sache, auch nicht bei Frauen. Das ist so -warum, weiß ich auch nicht. Ich will es auch nicht wissen. Mich selbst zu befragen, war nie meine Stärke. In meiner Jugend kam mein Bewusstsein an die Oberfläche. Man muss begreifen, wer man ist. Dann mit Herz und Hand sein Erbe ergreifen. Ich war ein Königssohn und das verpflichtete mich. Nichts Großes und Wertvolles wird ohne Anstrengung gewonnen. Es kam die Erkenntnis, dass ich etwas bewirken will in meinem Leben. Der Heldentum war mir fremd, dennoch tat ich heldisches. Ich besiegte alles, was sich mir in den Weg stellte, ich eroberte viele Frauen, ich ordnete ein neues Staatswesen und Oedipus beendete in meiner Stadt sein Leben, was mir hoch angerechnet wurde. Dennoch verlor ich auch auf vielen Ebenen. Meine Unachtsamkeit ließ meinen Vater Aegeus sich töten, die Lüge meiner Frau erkannte ich nicht und mein Sohn musste deswegen sterben. Aber mein Sieg über den Minotaurus und die Einrichtung eines neuen Rechts in der Stadt Athen mit ihrem neuen politischem Wesen überstrahlt meine Fahrlässigkeiten.
Der Sieg über den Minotaurus war für mich notwendig, eigenartig und richtungsweisend. Ariadne, die Schwester des Minotaurus, verführte mich zu Beginn meines Aufenthaltes auf der Insel Kreta. Ich ließ mich gern verführen und genoss die Stunden unserer Spiele. Sie machte mich mit Daedalus bekannt, der mir von Labyrinth erzählte. Seitdem betrachtete ich Ariadne mit Argwohn. Sie redete mir zu viel von den Gefahren und ihren Möglichkeiten, mich wieder aus dem Labyrinth heraus zu holen. Ich spürte ein Unbehagen, dennoch blieb ich bei ihr. Vielleicht waren Daedalus Erklärungen über das Verhängnis des Labyrinths  schuld daran, vielleicht waren es die körperlichen Reize, die ich zu gern genoss.
Ariadne band mir einen unzertrennlichen Faden um mein Handgelenk, diesen sollte ich wieder einrollen, wenn ich den Minotaurus getötet habe, um aus dem Labyrinth heraus zu kommen. Mit dem Faden war ich mit der Welt verbunden, auch wenn ich Außergewöhnliches tat.
Nach meinem Sieg über den Minotaurus und das Ende der Herrschaft von Kreta über uns, reiste ich wieder nach Hause zurück. Durch eine List nahm ich Phaedra, die jüngere Schwester von Ariadne, mit, denn ihr verfiel ich, je längeren mein Aufenthalt auf Kreta dauerte. Ariadne setzte ich auf der Insel Naxos aus. Sie verfluchte mich. Ich konnte es nicht verhindern. Ich wollte es auch nicht.
In Athen heiratete ich Phaedra, aber mein Glück mit ihr währte nicht bis zum Lebensende. Sie betrog mich – sie ermordete sich selbst und beschuldigte meinen Sohn Hippolytos. Diesen verfluchte ich, denn ich glaubte ihr mehr als ihm. Und auf seiner Flucht kam er durch mein Verhalten zu Tode. Ich war schuld an seinem Tod. Dass  Phaedra sich selbst gerichtet hatte, war für mich nur ein geringer 
Schmerz.                                                                         Ich bin seit dem nur noch Herrscher und versuche für alle, gerecht zu sein.

Mein persönliches Schicksal ist hart, aber ich stelle die politischen Angelegenheiten über meine persönlichen.



Daedalus

Ich konstruierte das Labyrinth. Keiner konnte diesem entfliehen. Nicht nur die Wege waren so konzipiert, dass diese unerschöpfliche schienen,  sondern auch Düfte, die überall in dem Labyrinth verströmt wurden, waren berauschend und bewirkten, dass alle bleiben wollten, die einmal da drinnen waren. Berauschend, um das Leben so leben zu können - das Leben der anderen war vergessen. Ich erdachte all dies, es reizte mich, tief in diese Welt einzudringen, um etwas Unermessliches zu erschaffen.
Doch dieses Labyrinth war auch mein Schicksal, denn mein Sohn Ikarus kam dadurch um sein Leben. Verirrt im Labyrinth, entfloh er dem Labyrinth durch die Flügel, die er vorher konstruiert und mitgenommen hatte. Doch kam er in den Lüften der Sonne zu nah, das Wachs zwischen den einzelnen Federn schmolz, die Flügel verloren ihre Festigkeit und Ikarus, mein Sohn, stürzte aus den Lüften ins Wasser. Ich konnte ihn lebend aus dem Wasser ziehen, aber der Sturz, oder die Düfte bewirkten, dass Ikarus nicht mehr in unserer Welt lebt. Er bewegt sich zwischen zwei Tagen - in einem Tag- und einem Nachttraum, immer hin und her, vor und zurück, kein Ausweg. Er mag sich damit abgefunden haben, vielleicht weiß er es auch gar nicht, aber ich kann mich damit nicht abfinde, denn ich habe das Labyrinth ausgedacht, konzipiert und erbauen lassen. Mein Denken hat das Schicksal von Ikarus, meinem Sohn, bewirkt. Es war so von den Göttern vorbestimmt, dennoch bin ich der Auslöser. Das Labyrinth ist auch zu meinem Schicksal geworden.



Ariadne

Als ich Theseus zum ersten Mal sah, wusste ich, dass er für mich meine Bestimmung war. Ich musste ihn sehr umgarnen, denn meine Mutter wollte auch etwas von ihm, aber meine Schönheit und meine Jugend konnte ich gut einsetzen. Ich spürte, dass er meinen Halbbruder Minotaurus töten wollte. Er hätte es wohl auch  allein geschafft, aber ich konnte ihn überzeugen, dass es nur mit meiner Hilfe gehen würde. Und so wäre er dann an mich gebunden. Ich musste ihn mit Daedalus bekannt machen, dann würde alles zu meiner Zufriedenheit ablaufen. Nach dem Gespräch mit Daedalus war Theseus sehr beeindruckt von dem Labyrinth, in dem der Minotaurus lebte. Ich konnte ihn leicht überzeugen, dass er nur mit einem Faden, der unzertrennlich war, wieder aus dem Labyrinth heraus kommen könnte. Diesen Faden an seinem Körper gebunden, würde ich am Labyrinth-Eingang festhalten  -  so war er innerlich und auch körperlich mit mir verbunden. Ich gebe nur zu gern zu, dass ich mit Theseus, diesem Ungewöhnlichen, so verbunden sein wollte. So konnte ich in meiner Welt mit dem Göttlichen in Verbindung treten. Ich wollte das und setzte alles dafür ein.
Ich spürte seinen Widerwillen gegen den Faden, aber seinen Drang, den Minotaurus zu erledigen, war größer als seine Vorbehalte. Außerdem wusste ich meinen Körper ein zu setzen, er war mir nach dem Liebesspiel immer sehr zugetan. Wir hatten bis zu dem Einzug in das Labyrinth noch einige Tage Zeit, so konnte ich ihm unser Reich zeigen, mit all seinen verborgenen Plätzen. Er eroberte gern und ich ließ ihn gern alles erobern.
Später hat er mich betrogen, er hat mich hintergangen - mit meiner Schwester Phaedra. Er hat mich auf einer Insel abgesetzt und ist mit Phaedra nach Attika gesegelt. Ich suche seitdem meinen Trost - in irdischen und überirdischen Dingen. Ich provezeihe ihm eine schmerzhafte Zukunft. Jeder muss sein Schicksal tragen und ertragen.



Phaedra

Ich war ein Kind. Ich liebte das Spiel. Als Theseus uns besuchen kam, wusste ich nicht, was er bei uns wollte. Er war angenehm, schön anzuschauen und redete mit einem fremden Akzent. Er hielt sich oft in meiner Nähe auf und sah mir beim Spielen zu. Erst später wurde mir klar, warum er es tat.                                                                          Wir täuschten aus Spiel meine Eltern und meine Schwester. Wir segelten über das Meer in sein Land. Erst später wurde mir klar, warum wir das taten. In Attika wurde ich zur Frau und wurde zu seiner 2.Frau. Ich liebte das Leben. Und es gefiel mir an seiner Seite zu stehen. Die Jahre vergingen  - Theseus wurde älter, ich fühlte mich weiterhin jung. Theseus verbrachte die Tage mit politischen Dingen und Entscheidungen. Mit mir verbrachte er kaum noch Zeit. Auch in unserem Haus  -  auch wenn es ein Palast eines Herrschers war, gab es kaum Überfluss und Schmuck, denn Theseus sagte, dies stehe uns nicht zu, wir sollten leben wie die anderen auch  -  hatte er kaum Zeit für mich.
Aber da war sein Sohn Hippolytos. Oh, wie glich er seinem Vater als ich Theseus kennenlernte. Diese Unbekümmertheit, diese Neugier an der Natur, die reizte mich. Ich wollte in seiner Nähe sein, seine Stimme hören, ihn einfach sehen. Er reizte mich, denn er glich Theseus. Ich wollte ihn verführen, aber er verweigert sich mir. Ich kann diese Schmach nicht ertragen. Ich werde ihn beschuldigen, dass er mich verführen wollte, danach werde ich Hand an mich legen …


2014